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geschrieben von: Redaktion am 31.01.2018, 10:16 Uhr
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Balkonszenen bleiben uns erspart. Schön. In den Zentralen von CDU und SPD gibt es auch keine Balkone. Aber Eingangstüren, durch die alle Verhandler durchgehen müssen. Nur wenige können dem widerstehen, an der aufgereihten Mikrophonzeile vorbeizuschreiten, ohne doch noch irgendeine Wasserstandsmeldung abzugeben. Kann man nicht warten, bis das fertige Papier auf dem Tisch liegt? Nein. Am ärgerlichsten ist es immer dann, wenn Zwischenergebnisse unterschiedlich bewertet werden. Beim Familiennachzug feiern SPD und CSU den Sieg über ihre Interpretation des Ergebnisses, die CDU wird schon gar nicht mehr erwähnt. Alle sind nach über vier Monaten müde, sich noch mit dem Thema Regierungsbildung zu beschäftigen. Deutschland ist nicht untergegangen und anders als in den USA muss hier kein Staatsbediensteter Angst davor haben, dass sein Gehalt für einige Zeit ausgesetzt wird. Und auch die Rentner bekommen pünktlich ihre Zuwendung, was ich heute am letzten des Monats bestätigen kann.
Das wahre Leben findet nicht im Konrad-Adenauer- oder Willy-Brandt-Haus statt, sondern an vielen Orten in der Stadt, wo Politik keine große Rolle spielt, zum Beispiel gestern Abend im Velodrom. Letzte Nacht beim 6-Tage-Rennen. Gewonnen haben die Vorjahressieger Yoeri Havik und Wim Stroetinga aus den Niederlanden.
Aber, ist selbst das wichtig, außer für die Betroffenen, wer bei den Six Days gewinnt? Für die Gäste zählt vor allem der Spaß. Ausgestattet mit Trillerpfeifen unterstreicht man den Refrain des inzwischen viel zu selten gespielten Sportpalast-Walzers, der eigentlich Wiener Praterleben heißt und von Siegfried Translateur im Jahr 1892 komponierter wurde. 1923 wurde das Stück vom Orchester Otto Kermbach erstmals beim Berliner Sechstagerennen im Sportpa-last gespielt. Seine Beliebtheit erlangte es durch Reinhold Habisch, der bei einem Unfall ein Bein verlor und seinen Wunsch, selbst Radrennfahrer zu werden aufgeben musste. Unter dem Spitznamen „Krücke“ kam er auf die Idee, die vier gleichen Töne des Walzers, die nach den ersten zwei Takten der zweiten Walzersequenz folgen, scharf mitzupfeifen, was dann vom Publikum übernommen wurde. Aber, wie gesagt, der legendäre Sportpalast-Walzer ist nur noch selten im Velodrom zu hören, stattdessen dröhnende Disco-Musik.
„Läuft was falsch? Dann zu Halsch!“ ist das Motto der Vorsitzenden des Sportausschusses im Abgeordnetenhaus, Karin Halsch. Sie ist Stammgast beim 6-Tage-Rennen. Vielleicht setzt sie sich dafür ein, dass wieder ein bisschen mehr Tradition ins Stadion zurückkehrt und der Sportpalast Walzer öfter gespielt wird.
Auch Sportstaatssekretär Christian Gaebler und Sportstadtrat Oliver Schworck freuten sich, weder an Koalitionsverhandlungen noch an der zeitgleich stattfindenden Senatsklausur teilnehmen zu müssen. Manchmal ist es doch viel schöner, nur in der zweiten Reihe zu stehen. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller, auch oft und gern beim 6-Tage-Rennen, musste an dem Abend seinen Senat bespaßen. Seine Büroleiter Andreas Schwager (Rotes Rathaus) und Philipp Mengel (Wahlkreisbüro) vertraten ihren Chef würdevoll. Der Vollständigkeit halber darf Oliver Theel in der Rund nicht unerwähnt bleiben. Er ist in Tempelhof-Schöneberg für den Straßenverkehr zuständig. Anregungen bezüglich des Radverkehrs in seinem Bezirk wird er sich vermutlich im Velodrom nicht geholt haben können. So breite Fahrradstreifen gibt es eben nur hier.
Ein Abend im Velodrom ist sehr abwechslungsreich, ständig finden irgendwelche Rennen mit unterschiedlichen Fahrern statt, und auch Fahrerinnen. Das Foto zeigt die Siegerehrung für Kristina Vogel aus Erfurt. Dass sie überhaupt noch Rennen fahren und gewinnen kann, grenzt an ein Wunder. Im Mai 2009 hatte sie eine folgenschwere Begegnung mit der Polizei. Ein Zivilfahrzeug erfasst sie. Ein Brustwirbel und die Handwurzelknochen waren gebrochen, sie verlor mehrere Zähne und die Glasscheibe des Autos zerschnitt ihr Gesicht. Eine Gesichtshälfte blieb teilweise taub. Unglaublich, wie viel Lebensmut man haben muss, um so etwas zu verarbeiten.
Die Geschichte des Berliner 6-Tage-Rennens ist lang. Das erste wurde am 15. März 1909 in der Ausstellungshalle am Zoologischen Garten gestartet. Der große Publikumserfolg in New York hatte dazu beigetragen, diese Art der Radsportveranstaltung auch in Europa einzuführen. Bis heute ist es das am häufigsten ausgetragene Sechstagerennen weltweit. Bei der ersten Veranstaltung in Berlin im März 1909 in den Ausstellungshallen am Zoo (an gleicher Stelle befindet sich heute das Kino Zoo Palast) kämpften auf dem 150 m langen Lattenoval 15 Mannschaften um den Sieg. Von 1911 an fand das jährliche Sechs-tagerennen - in manchen Jahren gar zweimal - im 1910 erbauten Berliner Sportpalast statt. 1934 fand in Berlin das letzte dortige Sechstagerennen vor dem Zweiten Weltkrieg statt. Erst 1949 war die nächste Austragung. Der Sportpalast wurde 1973 abgerissen, und so fand das Berliner Sechstagerennen in der Deutschlandhalle statt. Seit 1999 hat das Berliner Sechstagerennen sein Zuhause im Velodrom an der Landsberger Allee, das sich an der Stelle der abgerissenen Werner-Seelenbinder-Halle befindet, in der die Ost-Berliner Sechstagerennen stattfanden. In diesem Jahr fand die 107te Veranstaltung statt.
So wie die meisten Fans der James-Bond-Filme sagen, dass Sean Connery der beste Darsteller war, so ist für viele Ältere der Sportpalast der schönste Austragungsort gewesen. Kleiner als die Deutsch-landhalle und das Velodrom, demzufolge gemütlicher. Auf der Zielgeraden befanden sich die Logen, in denen sich alles, was Rang und Namen hatte versammelte. Vor allem viele Schauspieler und Sportler feierten hier.
Ich war immer ein großer Fan der „Derny“-Rennen, benannt nach dem Rennfahrer Roger Derny. Einfach gesagt ist ein Derny ein Motorrad, an dem sich hinten eine Rolle befindet, an die sich der Radrennfahrer andockt. Im Windschatten fährt er hinten dem Derny her und kann bis zu 70 km/h erreichen. Das waren noch Zeiten, als diese Dinger richtig Lärm machten und beim Starten eine Rauchwolke aufstieg und der Geruch des Treibstoffs durch die Halle wehte. Heute knattern die Dinger leise vor sich hin, keine Rauchwolke, kein Motorduft. Schöne neue Welt.
Natürlich ist der letzte Abend immer der interessanteste beim 6-Tage-Rennen. An einem Dienstag bis Mitternacht ausharren zu müssen, ist allerdings für das werktätige Volk eine Herausforderung. Dennoch war früher die Halle rappeldicke voll. Heute: gut gefüllt, aber auch viele freie Plätze auf den Rängen. Im Mittelteil, dem so genannten VIP-Bereich, kaufen sich Unternehmen und Sportbegeisterte Tische und laden Freunde dazu ein. Für rund 200 Euro pro Karte ein nicht gerade preiswertes Vergnügen. Getränke und Speisen sind natürlich enthalten. Die Trillerpfeife muss man selbst mitbringen, auch wenn sie nur selten zum Einsatz kommt.
Ed Koch
Textquelle: wikipedia
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