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geschrieben von: Redaktion am 30.10.2022, 08:23 Uhr
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Man muss schon sehr gute Nerven haben, um in diesen Tagen und Wochen keine schlechte Laune zu bekommen. In Berlin bereitet sich die Politik auf eine Wiederholungswahl vor. Das erinnert ein wenig an die Schulzeit, in der man wegen zu schlechter Noten das Jahr wiederholen musste. Und die Noten, die bei der Berlin-Wahl im September 2021 verteilt wurden, sind nun mal schlecht. Die Wahl fällt in eine Zeit, in der wir andere Probleme haben, als Politiker zu bewerten. Anstatt die großen Themen anzugehen, streiten die Parteien um 500 Meter einer Straße, aus der die Grünen die Autos verbannen möchten. Das Stück Friedrichstraße wird sicherlich den Klimawandel stoppen.
Danke an den Klimawandel konnten wir in den sommerlichen Oktobertagen sagen, oder war es nur das Wetter? „Wir haben die Wahl: Kollektives Han-deln oder kollektiver Suizid.“ sagte António Guter-res, der UN-Generalsekretär, in diesem Jahr. Die Antwort ist leider sehr einfach: „Kollektiver Selbst-mord!“ Ein kollektives Handeln wird es nicht geben, nicht mit denen, die auf dieser Welt das Sagen ha-ben. Wie soll man angesichts dieser Tatsachen gute Laune haben können. Und wenn zu Weihnachten Wahlplakate in Berlin aufgestellt werden, bleibt nichts mehr übrig von der Heiligen Nacht.
Am Untergang ändert auch die „Letzte Generati-on“ nichts. Ihre Mitglieder können sich festkleben, wo sie wollen, es nützt nichts. Mit ihren Straßenblo-ckaden und Beschädigungen von Kunstwerken ha-ben sie das Gegenteil von dem erreicht, was sie wollen, nämlich ihnen zuzuhören und aus den durchaus richtigen Argumenten die richtigen Schlüs-se zu ziehen.
Immer wieder erschreckend und die schlechte Lau-ne fördernd ist es, wenn sich Ex-Politiker zu irgend-welchen Themen äußern. Warum muss Sigmar Gabriel kurz vor der umstrittensten Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten, dem Ausrichter-Land Katar beispringen? Ungefragt twitterte er: „Die deutsche Arroganz gegenüber Qatar ist ‚zum Ko…‘! Wie vergesslich sind wir eigentlich? Homosexualität war bis 1994 in D strafbar. Meine Mutter brauchte noch die Erlaubnis des Ehemanns, um zu arbeiten. ‚Gastarbeiter‘ haben wir beschissen behandelt und miserabel untergebracht.“ Ja, alles richtig, bloß mit dem Unterschied, dass Homosexualität bei uns nicht mehr strafbar ist und dass Frauen keine Erlaubnis brauchen, wenn sie einen Job annehmen möchten. „Gastarbeiter“ sind in Deutschland nicht nur besser als in Katar untergebracht, auch ihre Überlebens-chancen sind deutlich höher. Staatsoberhaupt Emir Scheich Tamim bin Hamad Al Thani und sein Premierminister Scheich Chalid bin Chalifa bin Abd al-Aziz Al Thani hatten, seit sie 2010 die WM kauften, genügend Zeit, um die Menschenrechte in ihrem Land zu verbessern. Der Emir hat die exeku-tive und legislative Gewalt im Staat, von der judika-tiven Unabhängigkeit brauchen wir gar nicht erst zu reden. „Als Quelle der Staatsgewalt legt die Verfas-sung das Volk fest. Ein Parlament oder politische Parteien existieren nicht.“ Wie praktisch.
Im Februar 2021 veröffentlichte die britische Tages-zeitung The Guardian die Zahl von 6.500 toten Arbeitsmigranten aus fünf Ländern seit Vergabe der Weltmeisterschaft im Jahr 2010. Da passt es doch bestens, dass die WM am Totensonntag beginnt.
Bei dieser Faktenlage fällt Gabriel nichts Besseres ein, als die deutsche Kritik an den Menschenrechts-verletzungen in Katar als arrogant zu bezeichnen. „Die Deutschen würden das Emirat täglich beleidi-gen, obwohl es Fortschritte mache.“ „Die UNO, die ILO loben das Land für seine Reformen. Nur wir Deutschen beleidigen es jeden Tag“, meint Gabriel.
ILO: Die Internationale Arbeitsorganisation ist eine Son-derorganisation der Vereinten Nationen und damit beauf-tragt, soziale Gerechtigkeit sowie Menschen- und Arbeits-rechte zu fördern. Dies schließt die Bekämpfung des Men-schenhandels mit ein.
Gabriels Parteifreund Henning Tillmann antworte-te Gabriel: „Kann mich nicht erinnern, dass 1993 Homosexuelle Angst vor Peitschenhieben haben mussten. Oder dass 'Gastarbeiter' in Deutschland massenhaft gestorben sind. Sigmar, ernsthaft, du kannst doch nicht ernst meinen was für einen Stuss du da in dem Tweet schreibst?“ Und der 21-jährige SPD-Nachwuchspolitiker Dario Schramm kommen-tierte: „Dieser Tweet verharmlost die Tausenden Tote, die ihr Leben aufgrund dieser gekauften WM verloren haben. Kein Sozialdemokrat würde so twit-tern.“
Das Nachrichtenmagazin Focus fasst Stimmen von Kritikern zusammen: „Gabriel pflegt Kontakte nach Katar und verteidigte das Emirat schon öfter. Die Äußerungen Gabriels lassen sich auf seine engen Kontakte in dem Emirat zurückführen. Seit 2020 sitzt Gabriel im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Acht Prozent der Aktien hält Katar, mehr als jeder andere Investor. Das Emirat würde vieles bei der Bank maßgeblich mitentscheiden, schrieb DER SPIEGEL im Januar 2021. So auch die Entschei-dung, dass Gabriel in den Aufsichtsrat rücken solle.“ Lobbyist Gabriel schlägt eine engere Zusammenar-beit mit Katar vor. „Ich finde, dass wir das Inte-resse Katars an der Zusammenarbeit, gerade was die Reformen angeht, aufgreifen sollten. Den Kata-ris zu helfen so was wie eine Berufsgenossenschaft aufzubauen, Arbeitsunfälle zu untersuchen, Lohn-kontrolle besser durchzuführen.“, sagte Gabriel in einem ZDF-Interview Anfang Oktober. Quelle: Focus Online
Zur Lage der Nation
Wenn in den USA der Präsident die „State of the Union Address“ verkündet, geschieht das vor beiden Kammern des Parlaments. Nun, die Machtverhält-nisse zwischen dem deutschen und amerikanischen Präsidenten sind höchst unterschiedlich. Dennoch: Die Rede zur Lage der Nation am 28. Oktober hätte vor dem Bundestag gehalten werden müssen und nicht im Festsaal des Schlosses Bellevue.
In der ersten Reihe vor Frank-Walter Steinmeier war Oppositionsführer Friedrich Merz zu sehen, der scheidende Präsident des Bundesrates Bodo Ramelow und der Präsident des Bundesverfas-sungsgerichts Prof. Dr. Stephan Harbarth. BILD kritisiert, dass weder der Bundeskanzler noch ir-gendein Regierungsmitglied teilgenommen haben. „Steinmeier hält Rede zur Blamage der Nation“, kommentiert ntv, und die Süddeutsche Zeitung spricht von einer „Rede der begrenzten Möglichkei-ten.“
Hart ins Gericht mit Steinmeier geht auch der ZDF-Kommentator Dominik Rzepka: „Das war zu we-nig: Bundespräsident Steinmeier spricht zwar von der gescheiterten Russland-Politik der Vergangen-heit. Doch seine Rolle spart er aus. Dieser Rede fehlt Selbstkritik.“
Auch wenn es sicherlich nicht dazu beitragen wird, gute Laune zu bekommen, sollte man sich die Rede von Steinmeier durchlesen und sich ein eigenes Urteil bilden:
Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut.
Jeder Mensch in unserem Land, der am 24. Februar auf-wachte und die Bilder sah von Raketeneinschlägen in Kiew, von Panzerkolonnen auf ukrainischen Straßen, von der russischen Invasion auf breitester Front – jeder, der mit diesen Bildern erwachte, wusste: An diesem Morgen war die Welt eine andere geworden.
Für niemanden ist der Schrecken dieses Morgens so ent-setzlich wie für die Menschen in der Ukraine selbst. Mit einigen von ihnen saß ich am Dienstag in Korjukiwka, einer kleinen Stadt nahe der weißrussischen Grenze, zu-sammen in einem Luftschutzkeller. Diese Menschen er-zählten mir ihre Geschichten, sie erzählten mir, wie dieser 24. Februar, wie der Schrecken des Krieges in ihr ganz normales Leben brach: der ungeheure Lärm der Einschlä-ge, der Rauch, das Feuer, ihre pure Angst – diese Frauen und Männer zitterten, als sie mir davon berichteten. Eine ältere Frau erzählte, wie sie mit ihrem Enkel die schier endlose Kette von russischen Panzern, Lastern und Kriegsgerät vorbeirollen sah und der Enkel sie ansah und fragte: „Oma, müssen wir jetzt sterben?" Die Großmutter konnte ihm die Frage nicht beantworten – und das treibt ihr noch heute die Tränen in die Augen.
Meine Damen und Herren, jede und jeder von Ihnen erin-nert sich an diesen 24. Februar. Auch ich. Das Sirenenge-heul, der dunkle Rauch über Kiew, die schrecklichen Bilder dieses Morgens, sie gingen und gehen mir unter die Haut. Und sie markierten das endgültige, bittere Scheitern jahrelanger politischer Bemühungen, auch meiner, genau diesen schrecklichen Moment zu verhindern.
Der 24. Februar war ein Epochenbruch. Er hat auch uns in Deutschland in eine andere Zeit, in eine überwunden ge-glaubte Unsicherheit gestürzt: eine Zeit, gezeichnet von Krieg, Gewalt und Flucht, von Sorge vor der Ausbreitung des Krieges zum Flächenbrand in Europa. Eine Zeit schwerer wirtschaftlicher Verwerfungen, Energiekrise und explodierender Preise. Eine Zeit, in der unser Er-folgsmodell der weltweit vernetzten Volkswirtschaft unter Druck geraten ist. Eine Zeit, in der gesellschaftli-cher Zusammenhalt, das Vertrauen in Demokratie, mehr noch: das Vertrauen in uns selbst Schaden genommen hat.
Politik kann keine Wunder vollbringen. Niemand, auch kein Bundespräsident, kann in dieser zutiefst unsicheren Zeit alle Sorgen nehmen. Im Gegenteil: Ich glaube, dass viele der Sorgen berechtigt sind. Wir erfahren die tiefste Krise, die unser wiedervereintes Deutschland erlebt.
Aber ich bin überzeugt: Wenn wir uns diesen Moment, diesen Epochenbruch bewusst machen, wenn wir uns einen Begriff machen von dem Zeitalter, das zu Ende gegangen ist, und dem neuen Zeitalter, das begonnen hat – dann, und nur dann, schärfen wir unseren Blick für das, was jetzt von uns verlangt ist, und ich bin sicher: Dann müssen wir dieser neuen Zeit nicht angstvoll oder gar wehrlos entgegensehen.
Die Jahre vor dem 24. Februar waren für Deutschland eine Epoche im Rückenwind. Es waren Jahre, geprägt vom Glücksmoment der Deutschen Einheit, vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Block-konfrontation und dem Zusammenwachsen Europas. Es waren Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben.
Und vielleicht auch das: Unser eigenes deutsches Glück prägte unseren Blick auf die Welt. Wir setzten darauf, dass wir von Freunden umgeben und der Krieg in Europa jedenfalls unvorstellbar geworden sei. Freiheit und De-mokratie schienen überall auf dem Vormarsch, Handel und Wohlstand in alle Richtungen möglich.
Trotz aller Krisen jener Zeit und obwohl natürlich nicht alles gelungen ist, was wir uns erhofft haben: Diese Jahre waren gute Jahre! Deutschland, ein Land mit dieser dunk-len Geschichte, war hineingewachsen in die Gemeinschaft der Staaten, respektiert, sogar beliebt bei den Partnern, mit wachsenden Gestaltungsspielräumen, auch wachsen-der Verantwortung in der Welt.
Und: Deutschland, ein Land so klein im Weltmaßstab und praktisch ohne eigene Ressourcen und Bodenschätze, war eine starke, moderne, global vernetzte Volkswirtschaft geworden – dank guter Bildung und Ausbildung, der Be-reitschaft zu Reformen und Handelsbeziehungen in die ganze Welt.
Deshalb sage ich: Diese Jahre mit Rückenwind, sie waren gute Jahre. Nichts ist uns in den Schoß gefallen. Wir ha-ben gearbeitet für Frieden und Wohlstand. Wir haben auf internationale Kooperation gesetzt und nach Regeln ge-spielt.
Dann kam der 24. Februar. Am 24. Februar hat Putin nicht nur Regeln gebrochen und das Spiel beendet. Nein, er hat das ganze Schachbrett umgeworfen!
Russlands brutaler Angriffskrieg in der Ukraine hat die europäische Sicherheitsordnung in Schutt und Asche gelegt. In seiner imperialen Besessenheit hat der russische Präsident das Völkerrecht gebrochen, Grenzen in Frage gestellt, Landraub begangen. Der russische Angriff ist ein Angriff auf alle Lehren, die die Welt aus zwei Weltkrie-gen im vergangenen Jahrhundert gezogen hatte.
Heute sind diese gemeinsamen friedenswahrenden Lehren verblasst. An die Stelle des Austausches, der Suche nach dem Verbindenden tritt mehr und mehr das Ringen um Dominanz. Chinas wirtschaftlicher und politischer Machtanspruch ist darin ein zentraler Faktor. Dieses Rin-gen wird die Zukunft der internationalen Beziehungen auf lange Sicht prägen. Die traurige Wahrheit ist leider: Die Welt ist auf dem Weg in eine Phase der Konfrontation – obwohl sie doch dringender denn je auf Kooperation an-gewiesen wäre. Klimawandel, Artensterben, Pandemien, Hunger, Migration, nichts davon lässt sich lösen ohne die Bereitschaft und den Willen zu internationaler Zusam-menarbeit. Und deshalb darf das Bemühen darum– trotz Krise und Krieg – nicht aufgegeben werden!
Was bedeutet das für uns in Deutschland? Meine Antwort ist: Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Es beginnt für Deutsch-land eine Epoche im Gegenwind.
Um in dieser Zeit zu bestehen, können wir auf die Kraft und Stärke bauen, die wir uns in den vergangenen Jahren erarbeitet haben. Und helfen werden uns Erfahrungen, die wir bei der Überwindung anderer schwerer Krisen ge-macht haben. Vergessen wir – bei allen Sorgen –gerade jetzt nicht: Wir sind wirtschaftlich stark, stärker als viele andere. Wir haben gute Forschung, starke Unternehmen und einen leistungsfähigen Staat. Wir haben eine große und starke Mitte in unserer Gesellschaft.
Aber zu den Stärken, die uns bislang geholfen haben, muss etwas hinzukommen: Wir müssen konfliktfähig werden, nach innen wie nach außen. Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung, und wir brauchen auch die Kraft zur Selbstbeschränkung. Wir brauchen keine Kriegsmentalität – aber wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft!
Dazu gehört zuallererst eine starke und gut ausgestattete Bundeswehr. Diese Erwartung haben unsere Bürger, und die haben auch unsere Nachbarn und Partner. Wir sind das starke Land in der Mitte Europas. Wir sind in der Pflicht, unseren Beitrag zur Bündnisverteidigung zu leisten – heute viel mehr als in einer Zeit, in der andere, vor allem die USA, die schützende Hand über uns gehalten haben. Wir konnten uns lange auf andere verlassen und können das auch weiterhin, aber jetzt müssen sich andere auch auf uns verlassen können.
Ich versichere unseren Partnern: Deutschland nimmt seine Verantwortung an, in der NATO und in Europa. Das zei-gen die sicherheitspolitischen Entscheidungen der Bun-desregierung seit der Zeitenwende vom 24. Februar. Das zeigt vor allem aber auch die breite öffentliche Zustim-mung, mit der diese Entscheidungen getragen werden.
Und – das ist mir besonders wichtig – das zeigt vielleicht auch die wachsende Aufmerksamkeit und der wachsende Respekt für die Bundeswehr in der Breite der Gesell-schaft. Endlich, sage ich. Das ist höchste Zeit. Diese Ge-sellschaft braucht eine starke Bundeswehr – aber die Bun-deswehr braucht auch eine Gesellschaft, die ihr den Rü-cken stärkt. Dafür werde ich als Bundespräsident weiter einstehen.
Konfliktfähigkeit und Widerstandskraft erfordern noch mehr als das. In dem Maße, in dem die Erwartungen an uns wachsen, wird auch die Kritik an uns zunehmen. Da-mit müssen wir erwachsen umgehen und nicht jede Kritik von außen umgehend als Munition in der innenpolitischen Auseinandersetzung missbrauchen.
Dass ein Land wie unseres in der Kritik steht, daran wer-den wir uns gewöhnen müssen. Schauen wir auf die USA, die haben viel Übung darin. Die USA sind globale Füh-rungsmacht. Sie werden kritisiert für das, was sie tun, und das, was sie nicht tun. Sie können nicht auf andere zeigen oder höhere Instanzen anrufen. Sie müssen wissen, was sie tun und warum.
Und Deutschland? Nein, Deutschland ist keine globale Führungsmacht. Aber wir sind einer der Großen in Euro-pa. Von uns wird Führung erwartet, Führung im Interesse Europas. Entscheidend ist nicht der Applaus des Publi-kums. Entscheidend ist die Stärkung Europas. Je unsiche-rer die Welt um uns herum, desto sicherer müssen wir uns über diesen gemeinsamen Weg sein.
Zu einem offenen Blick in die neue Zeit gehören auch schwierige Fragen an uns selbst. Die Welt seit dem Epo-chenbruch ist eine andere – und das bedeutet, dass wir von alten Denkmustern und Hoffnungen Abschied nehmen müssen.
Das gilt ganz besonders für unseren Blick auf Russland. Ich weiß, dass sich viele Menschen in unserem Land Russland und seinen Menschen verbunden fühlen, russi-sche Musik und Literatur lieben. In Ostdeutschland kom-men ganz unterschiedliche, höchst kontroverse Erinne-rungen an vierzig Jahre Geschichte hinzu, die bis heute nachwirken. Im Osten und im Westen sind wir dankbar für das Wunder der Wiedervereinigung und vergessen nicht, dass wir Michail Gorbatschow verdanken, dass sie friedlich blieb.
Dass die sowjetischen Truppen, ohne einen Schuss abzu-geben nach Hause zurückgekehrt sind, das hat viel Hoff-nung auf eine friedliche Zukunft gemacht. Und diese Hoffnung hatte auch ich, und sie war Antrieb für meine Arbeit in vielen Jahren.
Aber wenn wir auf das Russland von heute schauen, dann ist eben kein Platz für alte Träume. Unsere Länder stehen heute gegeneinander.
Putin führt eine Invasionsarmee, und die Ukrainer vertei-digen ihr Land, das sie seit ihrer Unabhängigkeit, seit dreißig Jahren aufbauen. Russlands Angriffskrieg hat Gorbatschows Traum vom „gemeinsamen Haus Europa" zertrümmert. Es ist ein Angriff auf das Recht, auf die Prinzipien von Gewaltverzicht und unverletzlicher Gren-zen. Er ist ein Angriff auf alles, wofür auch wir Deutsche stehen. Wer also schulterzuckend fragt „Was geht denn dieser Krieg uns hier in Deutschland an?", der redet – wie ich finde – unverantwortlich, aber vor allem geschichts-vergessen. Mit dieser Haltung können wir als Deutsche in Europa nicht bestehen – diese Haltung ist falsch!
Und deshalb, lieber Herr Botschafter Makeiev, unterstüt-zen wir die Ukraine, solange es nötig sein wird. Wir un-terstützen sie militärisch – Ihr Präsident hat mir gerade berichtet, wie lebensrettend die deutschen Luftverteidi-gungssysteme sind. Wir unterstützen sie auch finanziell und politisch. Wir unterstützen sie ganz akut beim schnel-len Wiederaufbau nach Russlands wirklich niederträchti-gen Angriffen auf Strom, Heizung, warmes Wasser, auf alle lebenswichtigen Infrastrukturen vor dem nahenden Winter.
Und ich rede nicht nur, Herr Botschafter, über Unterstüt-zung durch Politik. Es gibt so viele Menschen in Deutsch-land, die mithelfen, die Flüchtlinge aufgenommen haben oder ihnen auf dem Weg in unsere Schulen, Ämter und Betriebe zur Seite stehen. Es gibt unzählige zivilgesell-schaftliche Initiativen, Städtepartnerschaften, kommunale Netzwerke, die ganz konkret in der Ukraine Hilfe leisten. Dafür möchte ich Ihnen allen in unserem Land heute dan-ken, Ihnen allen, die diese lebenswichtige Hilfe leisten und dafür sorgen, dass sie weitergeht – meinen aufrichti-gen Dank für das, was Sie tun!
Und weil dieser Krieg auch uns betrifft, führt auch an wirtschaftlichem Druck auf Russland kein Weg vorbei. Das sage ich denen, die mich fragen, warum wir denn Lasten tragen sollen für den Krieg in einem anderen Land. „Schaden die Sanktionen nicht vielmehr uns selbst? Kön-nen wir sie nicht einfach sein lassen?" Solche Fragen höre ich häufig in diesen Tagen, und ich will sie gar nicht ab-tun, denn die Ängste, die dahinterstehen, sind real. Was ich sagen will: Wir müssen diese Fragen beantworten.
Sanktionen, Abbruch von Kontakten, Waffenlieferungen in einen tobenden Krieg: Nichts davon ist Alltag, nichts davon verträgt sich mit unseren bisherigen Vorstellungen von einem friedlichen Miteinander. Aber wir leben eben nicht in einer idealen Welt, wir leben im Konflikt. Und dafür brauchen wir Konfliktinstrumente. Und ja, Sanktio-nen haben Kosten, auch für uns. Was wäre denn die Alter-native? Tatenlos diesem verbrecherischen Angriff zu-schauen? Einfach weitermachen, als wäre nichts gesche-hen? Es ist doch unser Interesse, dass wir uns mit unseren Partnern Russlands Rechtsbruch entgegenstemmen. Es ist unser Interesse, dass wir uns aus Abhängigkeiten von einem Regime lösen, das Panzer rollen lässt gegen ein Nachbarland und Energie als Waffe benutzt. Es ist unser Interesse, uns selbst zu schützen und unsere Verwundbar-keit zu reduzieren. Niemand hat das klarer und kürzer gesagt als die estnische Ministerpräsidentin vor Kurzem: „Energie mag teurer werden, aber die Freiheit ist unbe-zahlbar."
Ich habe gesagt: Wir leben im Konflikt, und dieser Krieg geht uns etwas an. Aber ebenso wichtig ist mir: Unser Land ist nicht im Krieg. Und wir wollen auch nicht, dass sich das ändert. Eine Ausweitung des Krieges, gar eine nukleare Eskalation, die muss verhindert werden.
Und ich weiß, viele Menschen in unserem Land sehnen sich nach Frieden. Einige glauben, es fehle an ernsthaften Bemühungen unsererseits, ja gar an Bereitschaft zum Verhandeln. Ich kann Ihnen versichern: Niemandem, der bei Sinnen ist, fehlt der Wille. Aber die Wahrheit ist: Im Angesicht des Bösen reicht eben guter Wille nicht aus.
Denn nichts anderes sind Russlands brutale Attacken in den letzten acht Monaten: niederträchtig und menschen-verachtend. Ein vermeintlicher Friede, der solches Han-deln belohnt, ein Friede, der Putins Landraub besiegelt, ist kein Friede. Er würde für viele Menschen in der Ukraine eine Schreckensherrschaft bedeuten, würde sie der Will-kür und Gewalt der russischen Besatzer überlassen. Schlimmer noch: Ein solcher Scheinfriede würde Putins Hunger noch vergrößern. Moldawien und Georgien, auch unsere Partner im Baltikum leben in Angst.
Auch die Menschen in der Ukraine, die Frauen und Män-ner und Kinder, die täglich vor den russischen Raketenan-griffen in die Keller flüchten, auch die wünschen sich Frieden, dringlicher noch als wir. Aber sie haben doch recht, wenn sie sagen: Der Friede, den wir uns ersehnen, muss ein gerechter Friede sein. Ein Friede, der die Unab-hängigkeit und Freiheit der Ukraine bewahrt. Ein unge-rechter Friede ist keine Lösung, weil er den Keim neuer Gewalt in sich trägt. Mehr noch, ein ungerechter Friede würde all jene auf der Welt bestärken, deren Machthunger kein Recht und keine Regeln kennt. Das kann nicht in unserem Interesse sein.
Den Frieden wollen, aber Waffen ins Kampfgebiet lie-fern; eine Kriegspartei unterstützen, aber selbst nicht im Krieg sein; Sanktionen gegen andere beschließen, aber auch selbst darunter leiden – ja, das sind Widersprüche, und ich höre jeden Tag, wie viele Deutsche daran zwei-feln, manche sogar verzweifeln.
Es ist für uns Deutsche eine Zerreißprobe. Der Gegenwind bläst tief hinein in unser Land. Die neue Zeit fordert uns heraus wie lange nicht mehr. Es ist eine Zerreißprobe, die uns auch keiner abnimmt und für die es keinen einfachen Ausweg gibt. Wie können wir das bestehen als Land, das selbst verunsichert ist? Woher nehmen wir die Stärke, Widersprüche auszuhalten, wenn wir selbst von Zweifeln geplagt sind?
Ich glaube: Dieser Moment der Krise, der muss für uns zunächst ein Moment der Selbstvergewisserung sein. Machen wir uns klar: Das, was uns im Kern ausmacht, das hat Bestand. Auch in Zeiten des Gegenwinds bleiben wir, wer wir sind: eine starke Demokratie in der Mitte Euro-pas. Eine freie, vielfältige Republik von selbstbestimmten Bürgerinnen und Bürgern.
Was der Epochenbruch, von dem ich spreche, was der verändert, sind nicht die Werte, für die wir stehen. Aber die Ziele müssen wir schärfen und anpassen auf die neuen Herausforderungen. Wir wollen in zwei Jahren sagen können: Wir haben die wirtschaftliche Talsohle durch-schritten. Wir wollen in fünf Jahren sagen können: Nicht nur die Ukraine hat ihre Souveränität behauptet – auch wir selbst müssen keine Angst vor neuen Kriegen in Eu-ropa haben. Wir wollen in zehn Jahren sagen können: Wir haben diese Gesellschaft zusammengehalten, mit den Schwächeren untergehakt und mitgenommen, und die Mehrheit hat ihr Vertrauen in die Demokratie bewahrt. Wir wollen in fünfzehn Jahren sagen können: Trotz Krieg und Krise – wir haben sichergestellt, dass auch den nach-folgenden Generationen ein gutes Leben auf unserer Erde möglich ist.
Ja, wahrscheinlich können wir die Erfolgsgeschichte un-seres Landes nicht in derselben Taktzahl fortschreiben wie in den letzten drei Jahrzehnten. Aber das Wesentliche wird wieder wichtig, und das verdient unsere ganze Kraft.
Ich sage „unsere" Kraft, und ich sage das ganz bewusst. Liebe Landsleute, diese neue Zeit, sie fordert jeden Ein-zelnen. Vielleicht konnte man in den Zeiten mit Rücken-wind noch durchkommen, ohne sich selbst großartig ein-zusetzen. Vielleicht konnte man es sich erlauben, Politik einfach anderen zu überlassen. Das gilt heute nicht mehr. Deutschland, unser Land braucht Ihren Willen zur Verän-derung, braucht Ihren Einsatz für das Gemeinwesen, da-mit wir dort ankommen, wo wir hinwollen!
Was also verlangt das Wesentliche? Und was sind wir bereit, uns abzuverlangen? Klar ist: Wir müssen in den nächsten Jahren Einschränkungen hinnehmen. Das spüren die meisten längst. Jeder muss beitragen, wo er kann. Und diese Krise verlangt, dass wir wieder lernen, uns zu be-scheiden.
Das mag nun wie Hohn klingen in den Ohren derer, die schon heute nicht über die Runden kommen. Ich weiß, dass auch in unserem reichen Land viele nicht verzichten können, weil ihr gesamter Alltag bereits aus Verzicht besteht. Diese Krise trifft Menschen, die schon vor dem Kriegsausbruch jeden Tag für ihr Auskommen zu kämp-fen hatten, für ihre Wohnung oder für ein gutes Leben ihrer Kinder. Diese Krise trifft Betriebe, Selbstständige, Läden, die gut liefen, aber jetzt wegen unterbrochener Lieferketten und hoher Energiepreise in die Schieflage geraten.
Deshalb muss am Beginn jeder Debatte die Versicherung stehen: Unser Staat lässt Sie auch in dieser Zeit nicht allein! Er setzt seine Kraft ein, um denen zu helfen, die es allein nicht schaffen. Entlastungspakete, Abwehrschirm, Gaspreisbremse, Wohngeld und Unterstützungsleistungen für Unternehmen, die großen wie die kleinen, zeugen von diesem Willen. Wichtig ist: Diese Unterstützung muss jetzt rasch bei den Betroffenen ankommen. Kein Staat, auch das gehört zur Wahrheit, kein Staat in Europa kann so viel für seine Bürger tun wie unser Land. Aber auch unser Staat wird nicht jede Belastung auffangen können. Und er muss es nicht! Denn die Krise trifft auch auf die vielen, denen es – zum Glück! – gut geht, die stark sind, die in den Jahren des Rückenwinds auch zu Wohlstand und Sicherheit gekommen sind. Sie können sich ein-schränken, ohne dass existenzielle Not entsteht. Und es gibt auch Bereitschaft dazu, wie mir manche sogar schreiben. Vertrauen wir auf diese starke Mitte unserer Gesellschaft!
Und schließlich trifft diese Krise auch auf viele wohlha-bende, reiche Menschen in unserem Land. Menschen, die viel haben und mehr tragen können. Sie müssen jetzt helfen, um die immensen Kosten der notwendigen Entlas-tungen überhaupt stemmen zu können. Sie müssen jetzt beitragen, um neue Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Beeindruckende Entlastungspakete sind wichtig – aber nicht weniger wichtig ist Gerechtigkeit bei der Verteilung der Lasten! Davon wird viel abhängen, glaube ich.
Liebe Landsleute, mir ist völlig klar: Niemand schränkt sich gern ein. Aber ich wünsche mir, dass wir unsere Perspektive verändern. Dass wir nicht als erstes fragen: „Wer kann mir die Last abnehmen?" Sondern eher: „Hilft das, um gemeinsam durch die Krise zu kommen?" Das ist die Haltung, mit der wir jetzt, so hoffe ich, gemeinsam durch den Winter gehen.
Doch zur Wahrheit gehört auch: Mit diesem Winter ist es nicht getan. So sehr uns die Sorgen vor Inflation, Energie-preisen und dem Krieg gerade umtreiben: Es wird auch nach diesem Winter, auch nach dieser wirtschaftlichen Talsohle kein einfaches Zurück zum Davor geben können. Denn auch wenn der Krieg die politische Tagesordnung verschoben hat – auch der Klimawandel fordert unser entschiedenes Handeln, auch und gerade jetzt! Ich mache mir ehrlich gesagt Sorgen, dass diese Menschheitsaufgabe zu sehr in den Hintergrund gerät. Der Klimawandel macht keine Ukraine-Pause! Klar ist: Wenn wir Emissionen drastisch reduzieren und uns von fossilen Energien lösen wollen, müssen wir manche lieb gewordene Gewohnheit aufgeben, im Kleinen wie im Großen. Von der Frage, wie – und wie schnell – wir uns fortbewegen und was wir essen, bis hin zur Frage, wie wir bauen und wohnen. Auch hier kann jeder Einzelne seinen Beitrag leisten. Beginnen wir sofort damit! Jeder noch so kleine Schritt ist besser als keiner.
Aber trotzdem werden diese individuellen Anstrengungen natürlich nicht ausreichen. Unser Land, unser erfolgrei-ches Wirtschaftsmodell steht vor einem historischen Umbau. Wir verlassen gerade die Ära der fossilen Indust-rialisierung, eine Ära, die Deutschlands Aufstieg als Ex-portnation begründet und begleitet hat. Und wir treten ein in ein Zeitalter zunehmend ohne Kohle, Öl und Gas, in dem sich Deutschland neu beweisen muss und neu bewei-sen wird. Darin liegen, bei aller Herausforderung, über die ich spreche, auch wirklich große Chancen für unser Land! Dass wir diese Chancen tatsächlich nutzen, dass neuer Wohlstand auf neuen, besseren Grundlagen möglich wird, das ist jetzt die vordringliche Aufgabe von Ingenieurinnen und Entwicklern, von Wirtschaft und Politik. Und dafür, dass diese Aufgabe gelingt, dafür sind unsere Chancen, wie ich finde, gut.
Und weil der Klimawandel in der Welt nur gemeinsam abgewendet werden kann, müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass es in Zukunft weiterhin Institutionen und Kooperationen geben wird, die über die wachsenden geo-politischen Gräben hinweg eine neue Blockkonfrontation vermeiden. Eine Zweiteilung der Welt in „wir gegen die", die ist, so bin ich überzeugt, nicht in unserem Interesse. Ja, wir müssen unsere Verwundbarkeit reduzieren, wir müssen einseitige Abhängigkeiten verringern. Aber das bedeutet eben nicht weniger Vernetzung mit der Welt, sondern, das wird Sie überraschen, mehr. Nicht binden an wenige, sondern Chancen und Risiken streuen. Deshalb rate ich uns: Verlernen wir nach dem Epochenbruch, über den wir sprechen, nicht all das, was deutsche Außenpoli-tik stark gemacht hat: die europäische Verankerung, das Bemühen um internationale Zusammenarbeit, um ge-meinsame Regeln, der Dialog zwischen den Verschiede-nen, das Werben um Partner, die anders sind als wir. Das ist eben keine Stilfrage, sondern das ist eine Überlebens-frage.
Ohne den Kampf gegen den Klimawandel ist alles nichts. Er braucht unsere ganze Kraft. Beweisen wir jetzt unsere Stärke in der Veränderung! Ermöglichen wir unseren Kindern und Kindeskindern ein gutes Leben auf unserem Planeten! Wir haben das in der Hand! Wir schränken uns ein, um durch die Krise zu kommen. Wir verändern uns, um unsere Erde zu erhalten. Noch ein Drittes wird uns abverlangt in dieser Epoche: Wir brauchen aktive, wider-standskräftige Bürgerinnen und Bürger. Denn in diesen Zeiten des Gegenwinds nehmen die Angriffe auf unsere freie Gesellschaft zu. Putin versucht, Europa zu spalten, und er trägt dieses Gift auch ins Innere unserer Gesell-schaft. Wir sind verletzlich, weil wir offen sind und weil wir auch offenbleiben wollen. Das Netz der Bahn, das freie Internet, die Software auf unseren Handys, unsere Energieversorgung – all das, das wissen Sie, ist bereits Ziel von Angriffen geworden. Wir werden uns besser schützen müssen.
Aber auch unsere Demokratie gehört zur kritischen Infra-struktur. Und sie steht unter Druck. Sie schützen können nur wir selbst. Das verlangt von uns Demokraten mehr als Bekenntnisse. Es verlangt Engagement und – auch hier wieder – Widerstandsgeist und Widerstandskraft.
Widerstandskräftige Bürger treten ein für ihre Meinun-gen, äußern ihre Sorgen – aber sie lassen sich nicht ver-einnahmen von denen, die unsere Demokratie attackieren. Widerstandskräftige Bürger unterscheiden zwischen der notwendigen Kritik an politischen Entscheidungen – und dem Generalangriff auf unser politisches System. Wider-standskräftige Bürger halten Unsicherheit aus und lassen sich nicht verführen von denen, die einfache Lösungen versprechen. Sie erwarten mit Recht, dass Politik sich in dieser schwierigen Zeit auf das Wichtigste konzentriert, dass Pragmatismus über ritualisierte Schaukämpfe siegt. Widerstandskräftige Bürger fordern Freiraum für ihre eigene Art zu leben – aber vergessen nicht, wie sehr wir alle auf andere angewiesen sind. Widerstandskräftige Bürger verlangen sich etwas ab: Respekt und Vernunft zum Beispiel. Das ist schwer, richtig schwer! Aber nur so können wir dem Gift des Populismus, der Gefahr des Auseinanderdriftens wirksam etwas entgegensetzen.
Und am Ende kommt es auch darauf an, wenn wir im Gegenwind stehen: Anstatt uns weiter auseinandertreiben zu lassen, müssen wir alles stärken, was uns verbindet.
Alles stärken, was uns verbindet – zum Beispiel zwischen Jung und Alt. Viele jüngere Menschen sind ungeduldig und werfen den Älteren vor, dass sie zu sorglos mit unse-rem Planeten umgegangen sind, zu zögerlich umgesteuert haben. Die Jüngeren fühlen sich betrogen – die Älteren fühlen sich abgewertet in dem, was sie für ihre Kinder und ihr Land getan haben. Spielen wir die Generationen nicht gegeneinander aus! Daraus kann nichts Gemeinsa-mes entstehen. Und wir alle haben doch hoffentlich das gleiche Ziel! Wir wollen unser Land verändern, wir wol-len es zu einem besseren machen – und das geht eben nur gemeinsam. Und so kommt auf uns Ältere, auf meine Generation jetzt die Aufgabe zu, selbst spät im Leben das Gewohnte noch einmal zu überdenken und mitzuhelfen, dass Veränderung gelingt. Und den Jüngeren, auch den vielen hier im Saal, sage ich: Es ist jetzt an Euch, in die Verantwortung zu gehen, Euch einzubringen, gerne kri-tisch, nicht destruktiv, und unser Land zu verändern, es vielleicht sogar besser zu machen als die Generationen davor. Meine Unterstützung habt Ihr, haben Sie!
Oder schauen wir auf manches Unverständnis zwischen Ost und West. Auch hier ist zu stärken, was uns verbindet. Viele Menschen in Ostdeutschland erleben gerade gefühlt die Rückkehr in die neunziger Jahre, als schon einmal Sicherheiten einstürzten und Existenzen zusammenbra-chen. Wie viel von dieser Erfahrung, von dieser Angst ist im Westen wirklich angekommen? Wir müssen es dies-mal besser machen, im Angesicht einer Krise, die den Osten erneut härter trifft, weil natürlich auch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung die Energieversorgung schwieriger, die Einkommen niedriger und die Ersparnis-se geringer sind bei den Menschen. Zu stärken, was uns verbindet, bedeutet heute dafür zu sorgen, dass der Osten nicht hinten runterfällt. Ich weiß, dass dort die Sorgen groß sind. Aber ich weiß auch, wie viel Licht am Horizont ist, wie viele Gründer, wie viel innovative Technologien auf Weltniveau aus Ostdeutschland kommen dank bester Universitäten und Forschungsinstitute. Ein Unternehmen aus Thüringen ist gerade zum zweiten Mal mit dem Deut-schen Zukunftspreis ausgezeichnet worden. Ersehnte Ansiedlungen von Halbleiterproduktion finden in Sachsen und demnächst auch in Sachsen-Anhalt statt. Führende Unternehmen der Elektromobilität finden auch in Bran-denburg ihren Platz. Das alles sind mehr als ermutigende Einzelfälle. Arbeiten wir an dieser neuen und nachhalti-gen Stärke Ostdeutschlands, das ist unsere gemeinsame Aufgabe!
Und das Verbindende zu stärken, diese Aufgabe stellt sich auch zwischen Stadt und Land. Viele Menschen, die in ländlichen Regionen leben – und das ist die Mehrheit in unserem Land –, finden sich nicht wieder in den Debatten, die wir in der Hauptstadt führen, Debatten, die häufig noch viel weiter von ihren tatsächlichen Problemen ent-fernt sind als der nächste Facharzt oder die Poststelle. Umgekehrt blicken viele Menschen in der Großstadt manchmal in einer Mischung aus Verklärung und Über-heblichkeit auf die ländlichen Räume, sehnen sich nach Ruhe und Abgeschiedenheit – die man aber nur am Wo-chenende genießen will. Woran es häufig fehlt, ist die ehrliche Anerkennung von unterschiedlichen Lebensbe-dingungen von Stadt und Land; woran es fehlt, ist die Bereitschaft, die Bedürfnisse von Menschen im ländli-chen Raum ernst zu nehmen, auch die Lebensqualität in den Dörfern und kleinen Städten zu erhalten. Und dazu braucht es mehr als eine stabile Internetverbindung. Es verlangt Aufmerksamkeit, und es verlangt Respekt für ein anderes Leben. Wagen wir doch ruhig häufiger einmal den Blick über den eigenen Tellerrand, über die eigene Wirklichkeit hinweg! Ich glaube, das können, das müssen wir uns abverlangen in einem gemeinsamen Land.
Reich und Arm, Jung und Alt, Stadt und Land: Verbin-dungen stärken, über Generationen und vor allen Dingen Lebenswelten hinweg – darum geht es mir jetzt. Ich bin jedem dankbar, der an mehr denkt als nur sich selbst. Viele Menschen in unserem Land tun es, diese Menschen sind das Rückgrat unserer Gesellschaft. Aber dieses Lob aufs Ehrenamt, das darf nicht mehr nur Sache von Sonn-tagsreden sein. Fakt ist: Das klassische Ehrenamt altert, Verantwortung verteilt sich auf weniger Schultern. Dabei ist der Einsatz für andere – gerade in den Zeiten des Ge-genwinds – unverzichtbar! Oder ich könnte sagen: sys-temrelevant! Eben deshalb müssen wir neue Wege finden, wie wir Entfremdung entgegenwirken, unsere Gesell-schaft, unseren Gemeinsinn stärken.
Dazu habe ich einen Vorschlag gemacht, und ich sage es offen, ich habe auch nicht erwartet, dass die Idee einer sozialen Pflichtzeit nur Begeisterung hervorruft. Was ich will, ist eine ehrliche Debatte über unser Engagement für das gemeinsame Ganze. Eine Debatte, die hoffentlich nicht wieder im Nichts enden wird! Ich bin und bleibe überzeugt, dass es keine Zumutung ist, wenn wir die Men-schen fragen, was sie für den Zusammenhalt in diesem Lande zu tun bereit sind.
Denn, und das ist meine wirklich tiefe Überzeugung: Demokratie geht nicht ohne Zusammenhalt. Zusammen-halt entsteht nicht von selbst. Er muss auch eingeübt wer-den. Er ist das Ergebnis von Menschen, von Empathie, von Verantwortung, von Nächstenliebe. Die Idee der sozi-alen Pflichtzeit einfach nur abzulehnen, das ist keine Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Viel-leicht gibt es andere überzeugende Konzepte. Aber soll das ewige Plädoyer für Zusammenhalt nicht folgenlos bleiben, dann brauchen wir mehr: mehr Ideen und mehr Menschen, die – mindestens einmal im Leben – für eine gewisse Zeit sich den Sorgen ganz anderer, zuvor fremder Menschen widmen, für diese Menschen schlicht und ein-fach da sind. So stärken wir, was uns verbindet, und da-rauf kommt es jetzt an – mehr als je zuvor!
Zum Schluss: Staatsbürger und Staatsbürgerin zu sein in Zeiten der Krise, Widerstandskraft beweisen im Gegen-wind, das verlangt uns etwas ab. Wir stehen heute zum ersten Mal in der Geschichte des vereinten Deutschlands gemeinsam an einem Scheidepunkt. Trauen wir uns zu, aufzubrechen in diese neue Zeit mit ihren neuen Heraus-forderungen? Sind wir gewappnet für das, was von uns gefordert wird? Ich bin überzeugt: Aus dieser Herausfor-derung heraus kann neue Stärke, kann auch neue Einheit wachsen. Es wird nicht einfach sein, und es wird anstren-gend sein. Ja, wir werden durch eine Zeit der Belastungen und der Unsicherheiten gehen, bevor wir neue Sicherhei-ten und wieder ganz festen Grund unter den Füßen haben. Ich wünsche mir, dass wir uns bei all den Mühen nicht aus den Augen verlieren, dass wir unsere Kraft jetzt nicht im täglichen Gegeneinander vergeuden. Wenn wir zusam-menhalten, wenn wir Mut und Ehrgeiz beweisen, dann bin ich mir sicher: Wir werden dieser Aufgabe gewachsen sein.
Wir bewahren unsere Freiheit, unsere Demokratie. Wir machen Deutschland zu einer neuen Industrienation – technologisch führend, klimaverantwortlich, in der Mitte Europas. Vernetzt, aber weniger verwundbar. Wehrhaft, aber nicht kriegerisch. Ein offenes, freundliches Land mit mehr und neuen internationalen Partnern.
Ich bin überzeugt: Unser Land hat die Kraft, Krisen zu überwinden. Es hat die Menschen, die immer wieder dafür arbeiten, die Unternehmerinnen, die Forscher, die Ingeni-eure, die Facharbeiterinnen. Unser Land hat das Wissen und die Ideen, die Erfahrung von Generationen und den Ehrgeiz der Jugend.
Vertrauen wir einander – und vertrauen wir uns selbst! Und lassen wir uns nicht entmutigen vom Gegenwind, der uns in dieser neuen Zeit entgegenweht. Es kommt nicht darauf an, dass alle dasselbe tun – aber, dass wir eines gemeinsam im Sinn haben: alles zu stärken, was uns ver-bindet!
Das ist die Aufgabe. Tun wir’s.
Zusammenstellung und Kommentierung: Ed Koch
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